LEITGEDANKEN

Für NaturwissenschaftlerInnen – und als solcher sehe ich mich durchaus – stellt der Umgang mit Begriffen, die nicht dem naturwissenschaftlichen Wissenschaftsverständnis entspringen, eine Herausforderung dar. Sie entziehen sich elegant dem Anspruch, sie in faktische Definitionen zu gießen und schillern stattdessen in den buntesten Farben der Subjektivität. Kein Wunder: Begriffe wie „Natur“ oder Pädagogik“ sind kulturelle Begriffe und die Deutung unterliegt damit laufenden Veränderungen – quasi parallel zu Änderungen von Wertvorstellungen in der Gesellschaft generell.

Umso zentraler besteht der Anspruch, die eigenen Vorstellungen und Deutungen sichtbar zu machen, um den Diskurs zu ermöglichen und gemeinsame Wirklichkeiten abzusprechen. Gerade dann, wenn sie die Matrix für pädagogische Angebote darstellen. Aus diesem Grund möchte ich persönliche Haltungen und Bilder darstellen, die sich in nun schon mehr als 20 Jahren pädagogischem Arbeiten in und mit der Natur verdichtet haben. Wohlgemerkt – ohne Anspruch auf „Wahrheit“.

Lernen über die Natur –
Lernen über mich selbst

Wie im Kapitel „Naturpädagogik“ schon geschildert, steht für meine pädagogischen Überlegungen weniger das Fakten-Lernen über die „Natur da draußen“ im Zentrum. Vielmehr sehe ich den Reiz naturpädagogischer Arbeit in den Verbindungen zwischen Naturwissen, Naturerlebnissen und den Wirkungen auf Individuum und Gruppe.

Natur als Gegenwelt Phänomen

Natur ist in der naturwissenschaftlichen Betrachtung ein hoch faszinierendes Forschungs- und Erkundungsobjekt. Das ist die eine Seite. In einer meiner Weltsicht ist „Natur“ auch eine kulturelle Konstruktion. Sie entsteht als Gegenkonzept zur geregelten, versicherten, absichtsvoll gestalteten, (scheinbar) kontrollierten und ökonomischen Nutzansprüchen unterworfenen Zivilisation. Die Erfahrung von „Natur“ kann in einer Großstadt ebenso gemacht werden, wie im Hausgarten, auf einem Berg oder in großflächigen Wildnisgebieten. Naturerlebnisse öffnen damit einen pädagogischer Raum, der eine Vielzahl an gesellschaftlich bedeutsamen Lern- und Erfahrungsmöglichkeiten für den Einzelnen und für Gruppen eröffnet.

Der Umgang mit
dynamischen Prozessen

Natürliche Prozesse sind immer komplex, dynamisch und damit in ihrem Ausgang unabsehbar. Zivilisatorischer Eingriff in natürliche Prozesse bedeutet, mit hohem Energieaufwand Planbarkeit und Zielerreichung herzustellen (siehe Landwirtschaft oder „Garteln“). Das funktioniert oft – aber beileibe nicht immer. Naturpädagogik macht natürliche Prozesse sichtbar und schärft den Blick auf die unendlich vielfältigen Entwicklungsformen der Natur.

Polaritäten

Wir alle beziehen unsere Lebensenergie aus dem Wechselspiel von Polaritäten. Die Annehmlichkeiten und Segnungen der Wohlstandsgesellschaft sind für uns selbstverständlich. Bei all dem Licht der Zivilisation existiert allerdings auch die Schattenseite der Saturierung und Unzufriedenheit. Wir können mit dem was wir erreicht haben nicht mehr zufrieden und glücklich sein. Uns fehlt die Erfahrung der Gegenpolarität – die Erfahrung von Einfachheit, Entbehrung und Bedrohung.

Erfahrungen an Grenzen

In großflächigen Naturgebieten tangieren wir mit Gruppen Grenzen der physischen und psychischen Belastbarkeit, sobald uns die Möglichkeiten der technisierten Lebensgestaltung entzogen werden (man denke nur an das Thema Handyempfang). Gerade an diesen Grenzen lernen wir aber auch am intensivsten und entdecken wir neue Fähigkeiten.

DIE NATUR DER DINGE

Eine ähnliche pädagogische Qualität möchte ich als das „menschliche Maß“ bezeichnen. Unser Leben ist geprägt von einer ungeheuren Vielfalt an Möglichkeiten der Lebensgestaltung. Daraus erwächst – neben einer großen Freiheit – auch die Notwendigkeit, ständig Entscheidungen zu treffen, die das „Projekt Leben“ zu einem rundum glücklichen und erfüllten machen. In einem Natur-Setting passiert Zweierlei: die Freiheit/der Möglichkeitsraum ist enorm eingeschränkt. Gleichzeitig aber sind die verbleibenden Entscheidungsnotwendigkeiten klar und überschaubar: Essen, Trinken, Schlafen, Wärme, Gemeinschaft. Zusätzlich wirkt der Rhythmus der natürlichen Prozesse: Tag – Nacht, Wärme – Kälte, Sonne – Regen. Diese Klarheit ermöglicht eine oft heilsame Verlangsamung unserer inneren Taktung. Entspannung und Rhythmisierung wird spürbar. Wir agieren gemäß der Natur der Dinge und unserer eigenen Natur.

Einlassen und Seinlassen

Sobald wir uns mit Gruppen den Naturgesetzlichkeiten ausliefern, sind wir mit klaren, unhinterfragbaren und in ihren Konsequenzen spürbaren Grenzen konfrontiert. Die Nacht bricht an, oder der Regen fällt vom Himmel – auch wenn wir noch so sehr damit hadern mögen. Diese Klarheit fordert letztlich von uns ein Einlassen in die Situation und ein Seinlassen all der „Ach was wäre nicht wenn…“. Derartige Erfahrungen holen uns ein Stück weit vom Thron des Machbarkeitswahns und des „Alles unter Kontrolle“-Denkens. Sie bringen uns ins Hier und Jetzt und werfen uns zurück auf uns selbst. Gerade die Reduktion kann also den Blick für das Wesentliche öffnen. Das Setting entfaltet ein sogenanntes „pädagogisches Selbst“.

Abenteuer JA – wilder Hund NEIN

Wildnis wird oft romantisierend überhöht. Es schwingt dann auch der Gedanke an die echte, wahre, bergende und harmonische „Mutter Natur“ mit. Mein Gedanke: Wildnis kümmert sich nicht um unsere Vor-Stellungen und Werte. Sie ist, wie sie ist. Und dabei verzeiht sie keine Fehler und Dummheiten. Das Abenteuer in der Wildnis muss ein achtsames sein, das die eigenen Grenzen respektiert. Denn Wildnis ist immer auch ein Ort der unabgesicherten Gefahr – und das tut uns gut in unserem „Sicherheitswahn“.

Die eigene Wirksamkeit erfahren

Ein kleines Feuer aufzubauen und anzuzünden ist als technische Fertigkeit in einer Welt der Feuerzeuge, Gasgriller und E-Herde weitgehend nutzlos. Die Qualität dieser Kompetenz liegt auf einer ganz anderen, archetypischen Ebene. Kurz gesagt: Wir spüren uns! Wir schaffen mit unseren eigenen Händen Feuer. Wir ringen auf gleicher Ebene mit den Naturgesetzlichkeiten – und spüren, wie demütig wir uns annähern müssen, um Erfolg zu haben. Aus der Permakultur-Philosophie möchte ich folgenden Satz entlehnen:

NATURERFAHRUNGEN SIND WIE EIN TANZ MIT DER NATUR – WOBEI DIE NATUR FÜHRT….

RINGEN IN EINER
PLURALISTISCHEN WELT

Naturgebiete sind ein Nutzungskonzept für Lebensräume im Sinne einer Nicht-Nutzung. Dahinter steht eine gesellschaftspolitische Entscheidung in Richtung Naturschutz, die immer wieder in Frage gestellt werden wird. Damit sind Naturschutzgebiete auch Orte in denen demokratisches Ringen um Entscheidungen in einer Welt der unterschiedlichsten Meinungen und Interessen passiert. Naturpädagogik soll diesen Prozess sichtbar und verständlich machen.

ERNSTCHARAKTER

Was können wir nicht Alles aus gescheiten Büchern und Ratgebern – scheinbar – lernen. Ganzheitliches Wissen ist Erfahrungswissen. Das ist in der Praxis erprobte Theorie. Zu diesem Erfahrungswissen gehört auch – und ganz besonders – das Scheitern. Und noch einmal probieren. So entsteht Wissen, das stärkt und Selbstbewusstsein gibt.